Im Konvoi nach Aden

Der Brite Tom, ein ehemaliges Mitglied der Royal Air Force, hat diese Rallye wochenlang akribisch vorbereitet und führt als „Eagle Lead“ – Mittelschiff der ersten Formation – das „Unternehmen“. Die Position von „Sleipnir2“ ist an der Backbordseite der zweiten Reihe der letzten Gruppe, und so werden wir für die nächsten fünf Tage zu „Kestrel 6“.

Der Anrufkanal auf VHF ist mit einem Buchstaben aus dem nautischen Alphabet codiert und wird täglich gewechselt, zusätzlich gibt es einige Arbeitskanäle, die ebenfalls durch Buchstaben definiert sind. Eine Reihe von Richtlinien werden für den erfolgreichen Ablauf dieses sogenannten MF (Mid-February)-Konvois im Briefing festgelegt, die engen Abstände zwischen den Booten, aber auch zwischen den vier Gruppen werden vor allem nachts die größte Herausforderung für die Cruiser darstellen.

Obwohl es sich bei den Teilnehmern natürlich durchwegs um erfahrene Segler handelt, verwundert es ein wenig, dass das Ablegen so vieler Boote innerhalb des kleinräumigen Ankerplatzes ohne nennenswerte „Hoppalas“ abläuft. Vor dem Hafen sollten sich die Gruppen unter langsamer Fahrt formieren, und bald erleben wir die ersten, schwer nachvollziehbaren Koordinationsprobleme. Es dauert jedenfalls bis in die frühen Nachmittagsstunden, bis alle Positionen bezogen sind.
Völlig überraschend sehen wir uns mit Gegenstrom und Gegenwind konfrontiert, Bedingungen unter denen „Sleipnir2“ die vorgeschriebenen fünf Knoten Fahrt nicht halten kann. Glücklicherweise melden bald andere schwach motorisierte Boote Schwierigkeiten und bitten um Reduzierung der Geschwindigkeit, so bleiben wir zumindest am ersten Tag dank besserer Nerven unauffällig und freuen uns über den neu festgelegten Cruisingspeed von vier Knoten über Grund.

Schon während der ersten Nacht wird klar, dass allen Beteiligten in den nächsten Tagen viel Konzentration abverlangt werden wird, das Radarbild zeigt zumindest 15 Yachten in einem Radius von 1 nm – wir übernehmen daher unseren drei Stunden Wachrhythmus über 24 Stunden.
Da wir einen unverhältnismäßigen Ölverlust eines unserer beiden Yamaha-Motoren vermuten, erbitten wir kurzzeitige Speedreduktion, um zwecks Ölstandkontrolle die Maschinen abwechselnd laufen zu lassen. Es bewahrheiten sich – bedingt durch die hohe Tourenzahl – die befürchteten 100 ml Ölverlust in 24 Stunden. Eine Menge, die wir jeden Morgen ohne weitere Messungen automatisch bei laufenden Motoren nachfüllen, was bei höheren Umdrehungen unproblematischer ist als etwa im Leerlauf – in jedem Fall eine „heiße“ Angelegenheit.
Während des zweiten Tages wächst der Gegenstrom auf 1,5 Knoten an, und einige wenige der stärkeren Boote beginnen, ihren Unmut über das verzögerte Vorankommen zu äußern.
Die dänische „Chriann“ beschwert sich bei Tom über das Nichteinhalten der „vertraglich“ festgesetzten fünf Knoten und schlägt vor, die schwächeren Boote zurückzulassen – wir glauben unseren Ohren nicht zu trauen… Major Tom berichtigt, dass es sich um fünf Knoten durch das Wasser (und nicht über Grund) handelt und bekräftigt seinen Ehrgeiz, mit allen Schiffen heil in Aden ankommen zu wollen, aber wir haben ab diesem Zeitpunkt ein Feindbild – theoretisch vor uns. „Chriann“ sollte als „Kestrel 3“ unmittelbar vor uns fahren, der Däne zieht allerdings ständig kreuz und quer duch die Gruppe oder fällt – aus welchen Gründen auch immer – weit zurück und lässt jegliche Gruppendisziplin vermissen.

Die für mittags angesetzte Übung einer „Attack Formation“, die mit den Worten „Execute Excalibur“ eingeleitet wird und für den Ernstfall rasch bezogen werden soll, misslingt völlig. Nur Tom äußert sich zufrieden über den Ablauf, aber Yachten haben schließlich keinen Rückspiegel… Bereits am Abend des gleichen Tages ist der Konvoi mit dem ersten scheinbaren Angriff konfrontiert, der von völlig harmlosen Fischern „ausgeht“ – aber das weiß zu diesem Zeitpunkt natürlich niemand.

Ein großer Trawler nähert sich und wird von der ersten Gruppe („Eagle“) schon längere Zeit beobachtet. Plötzlich löst sich vom Trawler ein Speedboot und hält auf die nächstgelegene Yacht zu. Der Funkspruch der betroffenen Bordfrau klingt – verständlicherweise – alles andere als entspannt, und sehr schnell kommt Bewegung in die Gruppen. Im Zuge der allgemeinen Flucht („Attack Formation“ ubi est?) kann „Sleipnir2“ mit den zwei Außenbordern nicht mithalten, und eh wir uns versehen, befindet sich der Trawler samt Speedboot an unserer Steuerbordseite auf Kollisionskurs. Wolfgang schickt Evi unter Deck (nicht zum Kochen) und verweist die „Angreifer“ gestenreich auf sein durchlöchertes T-Shirt, die ebenfalls wenig ansehnliche Short und die Einfachheit unseres Kats. Wie auch immer, die Fischer verstehen, heben den Daumen, grinsen und ziehen ab – Adrenalin und Puls bauen sich bei der „Sleipnir2“-Crew aber nur sehr langsam ab…
Natürlich eine völlig harmlose Begegnung, aber wir haben einen Eindruck gewonnen, wie ein Übergriff erlebt werden könnte.

Bereits am späten Nachmittag des nächsten Tages bekommt die Kestrel-Gruppe nach dem Totalversager des Vorabends Gelegenheit, sich zu bewähren. Ein Schnellboot taucht in der achterlichen Kimm auf und ist bereits wenig später längsseits an „Kestrel 6“ – wen sonst? Innerhalb kürzester Zeit sind wir von unseren Gruppenmitgliedern umringt und abgeschirmt – wieder nur eine „Übung“, denn die Fischer erbitten lediglich Zigaretten und Getränke. Die Gefahr, dass die Kestrel-Yachten sich gegenseitig rammen, ist wohl die größte in diesem Moment.
Für Kurzweil ist jedenfalls gesorgt, und die australische Yacht „Sea Life“ („Kestrel 2“), die während des Briefings ihre Bereitschaft bekundet hat, gegebenenfalls Angreifer zu rammen, zeigt in dieser Situation, dass sie es durchaus ernst meint.

Der dritte Tag bringt endlich leichten Wind aus Süd und westsetzende Strömung. Die Hoffnung der „Sleipnir2“-Crew ab diesem Zeitpunkt die Motoren schonender (oder sogar alternierend) einsetzen zu können, erfüllt sich leider nicht. Tom sieht die Gelegenheit, verlorenes Terrain gutmachen zu können und setzt 5,5 Knoten Fahrt über Grund fest.
Langsam wird klar, dass unsere Treibstoffkalkulation nicht aufgehen wird – Berechnungen hin oder her, mehr als die 500 Liter in 21 zusätzlichen Kanistern hätten wir ohnehin nicht mitführen können, da wir im Cockpit zumindest den Zugang zu den Zündschlössern der Motoren und zur Gasflasche gewährleisten müssen.

Im Laufe dieses Tages werden die stressbedingten Verschleißerscheinungen der Segler immer deutlicher. Vor allem die Gruppenleader scheinen kaum Schlaf zu finden, und die Übermüdung zeigt sich in teilweise grotesken Funkgesprächen. Die Denkpausen, um halbwegs verständliche Sätze zu formulieren, werden immer länger, manch einer hat Mühe mit der eigenen Bootsbezeichnung, andere sprechen minutenlang mit dem falschen Partner oder wählen – legasthenisch bedingt – falsche Arbeitskanäle. Auch wir sind uns ab dem zweiten Tag nicht sicher, ob wir genug Kraft und Durchhaltevermögen bis Aden haben werden – aber das Schicksal „hilft“ uns diesbezüglich:
Am Morgen des vierten Tages müssen wir unsere Benzinknappheit endgültig eingestehen. „Eagle Lead“ stoppt den Konvoi, ein Dinghy wird zu Wasser gelassen, und 100 Liter Benzin werden von verschiedenen Schiffen in Kanistern für „Sleipnir2“ eingesammelt. Auch wenn etlichen Booten die Unterbrechung sehr gelegen kommt, um verschiedene Checks an den Maschinen durchzuführen, ist uns die Kollekte mehr als peinlich.

Murphy’s Law schlägt für uns an diesem Tag zu – nachdem wir wieder Fahrt aufnehmen wollen und die Drehzahl erhöhen, stirbt der Backbordmotor ab und lässt sich definitiv nicht mehr starten. Den Steuerbordmotor können wir seit dem ersten Tag ohnehin nur durch Kurzschließen in Gang bringen.
In dieser Situation erweist sich unser Nachbar „Kestrel 5“ als Retter. Die neuseeländische 70 Fuß Superyacht „Silver Fern“, die seit dem zweiten Tag die Attrappe eines Maschinengewehrs an Deck aufgebaut hat, ist laut eigener Aussage froh über ein bisschen „extra load“, da sie ihre Maschine die längste Zeit untertourig fährt. Wenig später gleitet „Sleipnir2“ im Schlepp völlig lautlos mit sechs Knoten durchs Wasser.

So lernen wir durch unsere Misere in weiterer Folge zwei außergewöhnliche Menschen und Segelfreaks kennen. Martha und Bryce haben sich während eines America’s Cup kennengelernt, waren an mehreren Kampagnen beteiligt, und Bryce befriedigt Wolfgangs Wissensdurst mit Insiderwissen aus erster Hand. Im Hauptberuf hatte Bryce eine Werkstatt für Supersportwagen. Nachdem die Firma an den Sohn übergeben wurde, war der Weg frei für ein Engagement im America’s Cup. In Auckland Harbour nahm er nach Rennen und Trainings die Super-Rennyachten in Schlepp – „Sleipnir2“ weiß sich also in guten Händen.
Russell Coutts lernte auf seinen Dinghies Regattasegeln, Dennis Connor und Brad Butterworth sind gute Freunde, und der Kreis um die Segellegende Sir Peter Blake ist ihm sehr vertraut – etwa so als würden Benni Raich oder Hermann Maier gelegentlich zum Skitratsch vorbeikommen.

Trotz unserer neuen, passiven Rolle halten wir den üblichen Wachrhythmus bei und können uns im Cockpit kaum bewegen – die geborgten „neuen“ Benzinkanister nehmen zu viel Platz in Anspruch…
In der zweiten Nachthälfte nähert sich bereits eingangs erwähnte „Chriann“ (alias „Kestrel 3“) gefährlich dem Schleppverband. Evis diesbezügliche Meldung wird von Wolfgang verharmlost. Evis nächste Warnung klingt sehr eindringlich, aber bis Wolfgang an Deck kommt, ist es zu spät für Nebelhorn oder Fender, es hilft nur noch gellendes Schreien. „Chriann“ (Namen der Crew verdrängt) ist offensichtlich eingeschlafen und dreht buchstäblich auf dem letzten Meter, unmittelbar vor unserem Steuerbordbug und dem Hanepot der Schleppleine, ab. Etwa eine Stunde später entschuldigt er sich bei einer völlig anderen, unbeteiligten Yacht…

Über VHF Funk erleben wir quasi live einen Piratenübergriff auf einen kleinen Frachter etwa 20 Seemeilen südlich unseres Standortes. Die Stimme des Kapitäns überschlägt sich geradezu am Funk, während das kontaktierte Kriegsschiff scheinbar gelangweilt und nüchtern Anweisungen erteilt. Der Frachter mit offensichtlich niedrigem Freibord hat unwahrscheinliches Glück:
Während die Piraten über Aluleitern das Schiff entern wollen, fällt einer der Angreifer ins Wasser und muss von seinen „Kollegen“ geborgen werden. In weiter Folge versagt der Außenborder des Speedboots, und letztlich werden die „unglücklichen“ Piraten von dem Kriegsschiff aufgegriffen.
Einen weiteren Überfall auf ein Containerschiff, ebenfalls unwesentlich südlich unserer Kurslinie, verfolgen wir tags darauf etwas angespannt wieder auf VHF. Die Besatzung kann den Angriff durch Einsatz von Wasserwerfern erfolgreich abwehren – der Konvoi ist auf jeden Fall wachgerüttelt, etwaiges Lachen bleibt ein wenig im Hals stecken.

Auch die letzte Nacht lässt keine Langeweile aufkommen. Gegen 01.00 morgens meldet „Eagle 2“ mehrere Fischerbojen und sieht sich unmittelbar darauf darin gefangen. Wenige Minuten später kommen gleiche Statements von „Eagle 6“ und einigen Booten der „Skyhawk“- und „Merlin“-Gruppe. Der Konvoi befindet sich offensichtlich zwischen weit ausgelegten Fischernetzen, und entsprechend vorgewarnt tastet sich „Silver Fern“ mit Anhang langsam unter Suchscheinwerfern weiter. Wir scheinen Glück zu haben, bis sich in den frühen Morgenstunden ein Netz im Steuerbordruder unseres Kats verfängt. Wolfgang muss mit Messer bewaffnet während der ersten Morgendämmerung ins Wasser, und es ist weniger die Temperatur, als vielmehr das tiefe Blau unter ihm dafür verantwortlich, dass er sofort hellwach ist. Durch den Muschelbewuchs an den Scharnieren sind aufgeschnittene Finger kaum zu vermeiden, und Blut im Wasser ist nicht gerade das, was man in dieser Situation braucht.

Am nächsten Vormittag laufen wir als vorletztes Schiff des schließlich doch erfolgreichen Konvois hundemüde in den Hafen von Aden ein, nachdem wir den Steuerbordmotor mit Hilfe eines Schraubenziehers gestartet haben – wir sind im Jemen. Nach einer ersten Erkundungstour durch Aden, das uns auf Anhieb gefällt, klingt der Tag an Bord der „Silver Fern“ in Bierlaune aus – mit sehr viel Bier…